„Was hat das mit mir zu tun? Mann, das ist ewig her – klar war es schlimm, aber ich habe doch niemanden umgebracht! Wieso soll ich mich verantwortlich fühlen???“
Burak Yilmaz, zu Gast am MCG an diesem Vormittag, hielt in der Lesung aus seinem Buch „Ehrensache – Kämpfen gegen Judenhass“ inne. In der Aula verfolgten in gespannter Stille und sehr aufmerksam gut 340 Schüler:innen aus den oberen Jahrgängen der drei weiterführenden Schulen sowie externe Gäste aus der Gemeinde seinen Vortrag. Gekonnt hatte er zentrale Passagen, die die Jugendlichen sichtbar beschäftigten, für seine Lesung ausgewählt und rahmte seinen Vortrag mit sehr nachdenklich stimmenden Berichten von den Erfahrungen, die er in der Zusammenarbeit mit Jugendlichen und Erwachsenen bei der Arbeit in Antisemitismus-Aufklärungsworkshops und bei Auschwitzbesuchen gemacht hatte.
„Mann, Du hast keine Schuld, Du persönlich doch nicht – aber Du lebst hier in Deutschland, Du lebst hier in einer freiheitlichen Demokratie und lebst gut damit – und Du hast die verdammte Verantwortung, das zu verteidigen. Und ja – wenn das hier alles wieder schlimmer wird mit Diskriminierung, Judenhass und Rassismus und so – dann bist Du mitschuldig, weil Du Dich nicht dagegen gestellt hast. Denn Du weißt seit Hitler und den Nazis, wozu Menschen fähig sind im Umgang mit anderen Menschen, die nicht in ihr Konzept passen!“ So diskutierten junge Erwachsene am Abend nach dem Besuch des KZs Auschwitz – gute Freunde, die gleichermaßen betroffen und erschöpft vom Erleben der ehemaligen Vernichtungsfabrik mit den anderen Teilnehmenden und Burak Yilmaz als Organisator der Gedenkstättenfahrt zusammensaßen.
„Was hat das mit mir zu tun?“ Dieser Frage ging Yilmaz immer wieder nach. Und spannte den Bogen weiter: Nicht nur den erschreckend anwachsenden Antisemitismus thematisierte er, auch die jederzeit und überall präsente Diskriminierung andersfarbiger, andersgläubiger wie familiär aus anderen Ländern und Kulturen abstammender Menschen. Dass Rassismus ein alltägliches Phänomen ist, mal mehr, mal weniger verhüllt in privaten wie in öffentlichen Kontexten, sowohl in den kurzen Momenten unreflektierter Aussagen wie in dauerhaft verankerten systemischen Strukturen vorhanden und leider äußerst langlebig, war allen Zuhörenden rasch sehr klar. Und wurde allen im offenen Austausch, der sich der Lesung anschloss, deutlich vor Augen geführt. Schüler:innen erzählten von ihren Erfahrungen, nahmen dankbar, die Aufforderung Yilmaz` wahr, berichten zu dürfen und Gehör zu finden. Bönen ist eine multiethnische wie multikulturelle Gemeinde – die Interkulturelle Woche feierte diesen Reichtum der vielen Farben und die eingangs sprechenden Schüler:innen Jenny Bauschulte und Arjana Muldakaj wiesen explizit in ihrer Begrüßung auf die Chancen dieses Reichtums hin – aber in den Erzählungen der Schüler:innen wurde auch deutlich, dass es des bewussten Eintretens für diese Vielfalt und der aktiven Abwehr von Antisemitismus, Rassismus und Diskriminierung bedarf. Gerade der zunehmende Alltagsrassismus bildet die Schattenseite der multikulturellen Begegnungen. Und da systemische Strukturen öffentlicher Institutionen längst nicht Schritt halten mit der sich so rasch wandelnden Gegenwart, stehen auch diese vor der großen Aufgabe, kritisch zu prüfen, wie und wo er vorhanden ist – und gegenzusteuern. So kam auch die Frage auf nach rassistisch motivierten Vorfällen im System Schule.
Burak Yilmaz griff die Fragen der Schüler:innen engagiert und emotional zugewandt auf. Er machte an seinen eigenen Erfahrungen als Jugendlicher und einziger muslimischer Schüler an seiner Schule deutlich, wie schmerzhaft und lebenslang quälend rassistische Erfahrungen sind. Und auch, wie sehr er selbst mit seinen eigenen Vorurteilen als Enkel eines Israel und die Juden verachtenden Großvaters ringen musste. Wie schwer es ist, `Vielfalt im Kopf´ zu leben und nicht einer einfachen, festgefügten wie vermeintlichen Wahrheit, die die Welterklärung umso viel einfacher macht, zu folgen – gerade wenn man unsicher ist, weil um einen herum alles unsicher ist.
Multikulturelle Vielfalt ist Reichtum und Ausdruck unserer globalisierten Welt – aber sie stellt auch jeden Tag jeden vor die Herausforderung, die eigenen Denkmuster und eingespielten Verhaltensweisen sehr genau zu prüfen und den eigenen anerzogenen Filtern und automatischen Zuschreibungen misstrauisch zu begegnen. Yilmaz` Appell war einfach, aber eindringlich: „Geht in den Dialog – sprecht miteinander, immer wieder und immer wieder neu. Und bleibt offen im Kopf!“
Der lange und herzliche Applaus zeigte, welchen Nachhall seine Worte hatten. Und beim Verlassen der Aula war den Anwesenden klar, dass jeder – ob privat oder in öffentlicher Rolle, ob in der Freundesrunde, im Verein, im Beruf, einer Behörde, im System Schule, … – jeden Tag für sich und im öffentlichen Leben es in der Hand hat, sich gegen Antisemitismus und Rassismus zu stellen und das multikulturelle Miteinander zu gestalten. Eine stete und ernste Herausforderung – eine stete Möglichkeit, durch `bunte´ Vielfalt jeden Tag viel zu gewinnen.
Dass Bönen vielfältig ist, zeigte auch anschließend die Besichtigung der von dem Arbeitskreis Erinnerungskultur vor der Aula aufgebauten Wanderausstellung: Gerda Gnad und Hartmut Hegewald hatten 15 Roll-ups mit Migrationsbiografien von Bönener Bürgern zur Verfügung gestellt – mit berührenden, nachdenklich machenden, aber auch ermutigenden Erzählungen.
Es bleibt abschließend DANKE zu sagen: Danke für die Lesung und den tollen Austausch, Herr Yilmaz! Ein herzliches Dankeschön an das GoIn, das diese Veranstaltung möglich gemacht hat! Und ein ebenso herzliches Dankeschön an Gerda Gnad und Hartmut Hegewald vom AKEK!